Reisebericht 6: Wie funktioniert Amerika? – Oder: Amerika ist nur so stark, wie wir es machen
Wie funktioniert Amerika?
Oder: Amerika ist nur so stark, wie wir es machen
Die Sicht auf ein Volk, das gegen das Unvermeidliche kämpft: gegen das Verlieren.In Amerika regiert nicht Bush.
In Amerika regiert die Angst!
Das ist schon interessant, mal ein System von aussen und doch von ganz nah zu betrachten.
Die in den USA allgegenwärtige Angst ist für mich spontan verständlich: Die Angst vor dem Bösen als Angst vor der Rache für die bisher ungesühnten bösen Taten. Schon am Anfang der USA: Schuldgefühle ob der brutalen, betrügerischen und lebensfeindlichen Landnahme – und daher Angst vor der Rache, die zwangsläufig kommen muss. Und wenn die Eingeborenen, viele davon apathisch und mit der Tendenz zum Dauersuff, dazu nicht fähig sind – natürlich nicht! – muss man sie halt selbst produzieren – die Rache: Allgegenwärtige Krankheit. Totalverlust der Dreidimensionalität (und somit Tiefenschärfe). Daher null echte Lebensqualität. Massenhaft Verbrechen. allgegenwärtiges Elend, trotz Reichtum. Totale Unsicherheit.
Angst fördert Grenzen.
Die ohnmächtige Angst – und die ist es, die die amerikanische Gesellschaft prägt – bewirkt den Totstellreflex: Starre, Rückzug.
In unserem Organismus drin schafft chronische Angst eine gleichsam horizontale Grenze. Diese Grenze wird zwischen Kopf und übrigem Körper gezogen. Bei starker chronischer Angst ist diese Grenze wie aus Stahl. Kein Reiz dringt mehr durch diese Decke.
Wir verlieren die Tiefe, gleichsam die dritte Dimension. Unser Leben wird zweidimensional.
Tritt das Phänomen massenhaft auf, prägt Zweidimensionalität das ganze Gesellschaftssystem.
So ist es in den USA. In geradezu phänomenaler Ausprägung.
Bei einer fast totalen Trennung zwischen dem Kopf und dem Rest, wie wir sie in den USA massenhaft antreffen, fehlen die Referenzpunkte für die Wahrnehmung, die Vorstellungen und Fantasien. Es gibt keine zweite Instanz, die überprüft und wenn nötig korrigiert, was ‚da oben‘ zusammenkombiniert wird.
Echte Emotionen sind abwesend.
Spontaneität ebenfalls,
Verstehen logischerweise auch.
Wird ohnmächtige Angst chronisch, führt sie zu totaler Lebensuntüchtigkeit.
Lebensuntüchtigkeit aber verlangt nach umfassender Gängelung (siehe auch ‚Die Anleitung zum Händewaschen‘). Man kann sich auf nichts verlassen, das nicht total reguliert ist. Sicherheit wird zum mit Abstand wichtigsten Thema (niemals werden die Amerikaner unter diesen Umständen das Recht auf privaten Waffenbesitz aufgeben! Dasselbe gilt – unter ähnlichen Vorzeichen – dann auch für die entsprechenden Schichten in der Schweiz: Die Angst dominiert ihr Leben und die Waffe verspricht Sicherheit; Vernunft hat keine Stimme).
Selbstredend begleitet diese Gängelung im Dienst der ‚Sicherheit‘ die Menschen auf Schritt und Tritt. Das ist wörtlich gemeint. Sie können in Amerika kaum einen Schritt machen (das entspricht zwei Autominuten, da dort ja niemand zu Fuss geht), ohne dass eine ganze Horde von Hinweistafeln Sie darüber informiert, was Sie im Interesse Ihrer Sicherheit bitte alles tun bzw unterlassen sollen.
Übrigens: Die Angst ist zwar das grösste politische Kapital der Rechten. Aber sie wird in Amerika natürlich verdrängt. Sie passt nicht zum Image der ‚freien Nation‘, der ‚besten und tüchtigsten Menschen dieser Welt‘.
Jetzt können wenigsten wir verstehen, weshalb die meisten Amerikaner – auch sehr viele Liberale und auch politisch Fortschrittliche – sich überhaupt nicht vorstellen können, dass andere es lachhaft finden, das sie sich als das (lebens-)tüchtigste Volk der Erde betrachten. Es fehlen ihnen die eigenen Referenzpunkte. Wenn ihnen von oben (von Mom, Dad, dem Lehrer, dem Trainer, der Regierung) gesagt wird, das ist so, dann ist es so. Ausnahmen, die eine leise Zuversicht verbreiten, finden sich aber auch (siehe Reisebericht 1).
Die Konsequenz ist also, dass wir in den USA ein vollkommen horizontales System haben. Zweidimensional. Plattform pur.
Auf dieser Ebene wird ein ungeheurer Aufwand betrieben, um das System zum Funktionieren zu bringen und va: Sicherheit zu gewährleisten.
Da diesem System jede Tiefenschärfe – zB Verstehen – fehlt, wirkt die kleinste Störung verheerend. Die Angst taucht sofort auf und führt zu ultrakrassen Gegenreaktionen. Wer die Sicherheit und zwanghaft die Botschaft ‚alles ok‘ suchenden kommunikativen Regeln missachtet (Einleitung jeden Kontakts:„How are you – I’m fine“/ Sie liegen halbtot am Boden: „Is everything ok?“), schafft Irritation, Verunsicherung.
Rein horizontal-additive Lösungen führen systematisch zu Komplikationen, statt zu schlanker Ordnung und ‚alles ok‘. Je dramatischer das in der amerikanischen Gesellschaft zutage tritt, desto penetranter, so scheint es, werden die Beruhigungs-Formeln angewandt.
Jede Transaktion wird x-fach abgesichert. Spontane Änderungen, vernünftige Lösungen (vor allem!) sind ganz unmöglich. Sie würden alles ins Gleiten bringen.
So ein System wird unglaublich starr, unflexibel. Jede Ausnahme wird rundweg abgelehnt (das steht oft genug auf den tausenden von Hinweistafeln: ’no exception‘) oder dann gedouble-, tripple-, quadruplechecked.
Denn vernünftige, einfache Logik erfordert Dreidimensionalität:
Verbindung nach unten, Verständnis, Bindung, Emotion.
Vernünftige, einfache Logik ist in einem volldigitalen System unmöglich; ja wirkt befremdlich bis feindlich.
Wo Vernunft gefragt wäre, entsteht im linearen, zweidimensionalen System sofort endlose Kompliziertheit; bis man schliesslich auf die Lösung verzichtet. Meist wird sie dann einfach geradezu abrupt vergessen.
Alles ist tausendfach abgesichert. Und funktioniert trotzdem nicht, sobald nur schon geringste Störfaktoren, wie sie die Unwägbarkeit des Lebens automatisch und unvermeidbar mit sich bringt, dazwischenfunken.
Totale Kontrolle und vollkommene Gängelung sind also die höchsten politisch-wirtschaftlichen Ziele, um das Land mit Freiheit als wichtigster Ideologie am Funktionieren zu halten.
Das ist Amerika.
Brechen Sie eine Regel und Sie haben ein echtes Problem. Verlangen Sie eine spontane Änderung und Sie lösen einen unglaublich komplizierten Mechanismus der versuchten Absicherung aus.
Ein zweidimensionales System ist unfähig, einfache Lösungen zu finden – oder nur unter höchstem Druck. Jeder neue Schritt benötigt eine schiere Addition von Daten, um ihn zu bewältigen.
Kein Wunder, dass der Computer in Amerika entwickelt wurde.
Es ist offensichtlich und es zeigt sich in der jüngeren Amerikanischen Geschichte: So kann man auch bei höchstem intellektuellen und materiellen Einsatz nicht gewinnen.
Sobald Gegenspieler mit einfacher, vernünftiger Taktik auffahren (wie zB Guerillas), gerät das System an seine Grenze und droht zu kollabieren. Denn, bis es rein additiv eine Gegenreaktion errechnet und diese gedouble- und getripplechecked hat, hat der Gegenspieler längst einen neuen Zug gemacht, der wieder eine Flut zweidimensionaler Berechnungen auslöst, ohne Möglichkeit kurzer dreidimensionaler Überprüfung.
Wer das erkannt hat und das will, schlägt Amerika mit Links und führt diese gigantische, zweidimensionale Maschine, von zweidimensionalen Menschen bedient, regelrecht vor.
Nicht einmal Intelligenz ist dazu gefragt. Ein bisschen Schlauheit genügt bereits.
Wer das erkannt hat, versteht plötzlich, warum Amerika, trotz seines intellektuellen, technischen und materiellen Potenzials, einfach nicht gewinnen kann, sondern va politischen und militärischen Mist produziert.
Auch komplexeste Zweidimensionalität ist der schlichtesten Dreidimensionalität um eine ganze Dimension unterlegen.
Dieser Unterschied lässt sich auch mit dem grössten Aufwand nicht wett machen.
Der schlaue David kann den (lebens-)dummen Goliath leicht besiegen – wenn er das will.
Militärisch gesehen beginnt diese Geschichte mit Korea, geht über Vietnam, Kuba, Südamerika, Mogadisciu bis Afghanhistan und Irak.
Denjenigen unter uns, die friedliche Absichten hegen und lieber kooperieren als erobern, mag das Anstoss sein, sich vom Mythos Macht unabhängig zu machen. Wer seine bzw ihre Dreidimensionalität selbst bewahrt oder wieder gefunden hat, handelt klug und schweigt über den Unterschied – und somit die wahre Macht! – und begegnet der rein mechanisch-materiell-zweidimensionalen Macht mit einem freundlichen, unverbindlichen Lächeln: „How do you do, America?“
Amerika kooperiert mit niemandem. Wozu das beklagen? Amerika ist dazu gar nicht fähig.
Vernünftige Koexistenz mit Amerika halte ich zurzeit vor allem für möglich, wenn die dritte Dimension die Führung übernimmt und das amerikanische Gegenüber im Glauben lässt, es hätte die Führung.
PS: Wir wissen alle, dass es eine Million Ausnahmen gibt. Das ist müssig, das zu erwähnen.
Speziell ist vielmehr in Amerika: Sie können ohne Weiteres einer Million Amerikaner begegnen, ohne auf eine Ausnahme zu stossen.