Fragen – heute: Sind Menschen, die ein Image pflegen, unehrlich?
Frage (Sandro H.): Sie haben kürzlich geschrieben, „Image beruht stets auf einem falschen Selbstbild“. Was ist Ihre persönliche Sicht zum Thema Image?
Antwort: Ich weiss nicht mehr in welchem Artikel ich das erwähnte, aber ich kann mich an die Aussage erinnern. Weil sie richtig ist.
Image hat eine biologische Aufgabe. Was immer in unserer Vorzeit geschah; wer auch immer jagte und verteidigte. Der Frauenstandpunkt sieht das ja anders, als wir Männer bisher. Nur: Wozu haben wir grössere Muskeln, weniger Fett und schnellere Beine? Wozu, wenn nicht, um zu jagen und davon zu rennen, anzugreifen und zu verteidigen?
Auf jeden Fall ist das Sich-Klammern an ein Image ausgeprägt bei den Männern vorhanden. So ausgeprägt, dass viele von uns Männern bereit sind, zur Aufrechterhaltung ihres Images jeden (j e d e n!) Preis zu bezahlen.
Image bedeutet: ich gebe vor, grösser, stärker, cleverer zu sein als ich in Wirklichkeit bin. Ich versuche, den Feind zu beeindrucken und ihn zu täuschen.
Nur macht das in unserem Alltag heute überhaupt keinen Sinn mehr. Trotzdem ist die Imagefrage – das ‚Imageproblem‘ – allgegenwärtig. Die biologische Funktion muss selten aktiviert werden.
Es sei denn, es gibt einen neuen Grund, die andern zu täuschen…
Und den gibt es: Alle Männer – und 99% der Frauen – fühlen sich unwert. Und das fühlen sie permanent. Das heisst, jede und jeder andere ist ein potentieller Feind, der jederzeit aufdecken könnte, dass wir schwach, dumm, ungeschickt, lebensuntüchtig, hässlich, also: impotent, sprich unwert und also nicht zugehörig sind. Die schrecklichsten Eigenschaften eines Menschen – und ganz besonders eines Mannes (gehen Sie mal auf den Balkan oder in die Türkei, oder nach Brooklyn und machen Sie ein bisschen in Selbsterfahrung!). Wir sind das natürlich nicht oder höchstens zum Teil. Doch wir glauben unerschütterlich daran… und kämpfen um jeden Preis um unser Image, damit ja keiner merkt, wie es angeblich wirklich um uns steht. Letztlich tun wir das aus Angst, ausgestossen werden.
Klingt verrückt, nicht? Ist auch verrückt.
Vor allem, weil sich das Festklammern an einem konstruierten Bild, an einer Lüge über uns selbst, überall findet. In jeder Ehe. In jedem Team. In jeder politischen Karriere.
Und vor allem auch: vor uns selbst! Die meisten Männer – und zunehmend viele Frauen – wissen überhaupt nicht mehr, wer sie sind. Sie kennen nur noch ihr Image, oder eine ganze Auswahl davon, je nach Rolle, die sie gerade spielen. Ja, sie fürchten sich wahnsinnig davor herauszufinden, wer sie sind. Weil sie davon ausgehen, dass da nur etwas zu finden ist: Ihre Schwäche, ihre Hässlichkeit, ihr Unwert. Also meiden sie die ‚Wahrheit‘ wie der Teufel das Weihwasser. Denn ausgestossen zu werden ist schlimmer, als der Tod. Wenn das dann – zB durch eine Frau, die ihr Scheusal verlässt – tatsächlich geschieht, droht ihr bei so einem Mann der Tod. Sie hat vor der ganzen Welt gezeigt, dass er unwert ist. Sie und ihr Verhalten muss aus der Welt geschafft werden – bevor man die Schmach durch den eigenen Tod beendet.
Tipp: Je unsicherer oder starrer Ihnen ein Mann erscheint, desto dünner ist dessen Abwehrdecke, desto grösser die Gefahr. Das gilt für Männer, die sich aufplustern, genauso wie für stille, schüchterne Männer.
Ein Mensch im Einklang mit sich selbst braucht kein Image.
Er zeigt sich jederzeit offen. Alle dürfen erkennen, wer er oder sie ist. Habe ich einen kleinen Schwanz oder einen riesengrossen, oder etwa einen krummen? Was soll’s: Es ist meiner. Und ich bin damit genau so viel oder wenig wert wie ich eben bin. Menschen im Einklang mit sich selbst kann man nicht blossstellen. Weil sie nichts zu verstecken haben. Sie anerkennen ihren Wert, der sich aus all ihren Eigenschaften und Handlungen summiert. Aus ihren Schwächen und Stärken. Das genau macht sie aus. Sie brauchen nichts vorzuspielen, nicht so zu tun, als ob sie nur die guten Qualitäten hätten. Wenn sie tolle Leistungen bringen, dann haben sie das mit allem was sie sind gemacht. Ja, sie haben es gerade deshalb gemacht. Das macht ihre Einzigartigkeit aus. Dasselbe gilt, wenn sie geliebt werden.
Und falls das was sie sind und tun nicht genügt, müssen sie dazu lernen. Nichts bewahrt sie davor. Sich darüber hinweg zu schminken oder aufzuplustern, ist eine Lüge auf Zeit. Und sie verlieren ihre Würde – und damit den Wert.
Schärfen wir also unsere Sinne für Menschen und deren Image. Ganz vertrauen dürfen wir nur Menschen, die man nicht blossstellen kann, Menschen, die auch keine Tricks (wie Sprüche, gespielte Selbstironie oder angriffiges, ’selbstbewusstes‘ Auftreten) verwenden. Finden wir heraus, was wirkliche Offenheit und Ehrlichkeit ist! Das lohnt sich.
Menschen, die sich wirklich durch und durch wertschätzen, kennen ihre Unwertfantasien; sie haben den Weg gemacht und schliesslich aufgehört, sich davor zu fürchten. Damit verlieren diese täglich mehr an Kraft. Unser wirklicher Wert tritt hervor.
PS: Aber wenn Sie vor einem tatsächlichen Feind stehen, der Ihnen überlegen ist – und nicht bloss vor einem imaginären (sic!) – dann holen Sie ihr raffiniertestes Mimikri hervor; lügen Sie; täuschen Sie ihn so gut sie können; demonstrieren Sie Ihr bestes Image und sorgen Sie dafür, dass Sie und Ihre Lieben sicher davon kommen!