Tand, Tand von Menschen Hand… – oder doch echte Werte?
Stimmt, meistens erwähne ich die grossartigen Errungenschaften, die wir Menschen geschaffen haben, bloss beiläufig, zum Beispiel im Artikel ‚Das Projekt zweite Lebensschule – Illusion und Anspruch‘.
Aber ich erwähne sie. Bei aller kritischen Analyse unserer Lebensweise und von deren Konsequenzen, vergesse ich selten zu erwähnen, wie grossartig unsere Gattungsleistungen sind und wie ich mich über die Erfolgsgeschichte Mensch freue.
Natürlich kann man zu Recht monieren, wenn der Vergleich mit anderen Lebewesen ansteht und man prüft, was bei unseren komplexen Errungenschaften unter dem Strich übrig bleibt, dass da kaum etwas wirklich Besonderes hervortritt. Vor diesem Spiegel stehen wir vielleicht plötzlich ziemlich deformiert und lebensuntüchtig da, mit einer Unmenge Tand um uns herum aufgetürmt.
Und doch finde ich da bei ganz subjektiver näherer Betrachtung wunderbare kulturelle Perlen, die ich vorbehaltlos schätze und bei denen ich nicht frage, was unter dem Strich herauskommt.
Eine meiner liebsten davon und eine, die ich zugleich für eine der eindrücklichsten Perlen menschlicher Kultur halte, ist der Wein in all seinen verschiedenen Zubereitungsformen. Arme Muslime – was bleibt denn euch?
Da steige ich in den Keller: düsteres, schwaches Licht; es ist feucht und kühl; viele Flaschen sind mit Staub und Spinnweben bedeckt. Ein Portwein etwa, Jahrgang 1960. Ein umständliches Prozedere im Halbdunkel folgt. Gelingt es den Korken, der sich – perfid! – nach unten verbreitert, unbeschadet herauszunehmen? Im negativen Fall würde sich die Prozedur noch erheblich verkomplizieren. Die Chancen stehen fifty-fifty. – Gelungen! Beim Dekantieren dann droht ständig Verschmutzung des Inhalts durch das unappetitliche massenhafte Depot in der Flasche, das in all den Jahren ausgeschieden wurde. – Schliesslich bleibt die leere Flasche, innen halb bedeckt mit schwarzem Dreck, am Flaschengrund eine 1 cm dicke schmutzige Brühe.
Aber dann: Welche Wandlung!
Vorfreude: Das Riechen am Korken – die obligatorische Prüfung des Zustandes der Flüssigkeit, die, je nachdem, Jahrzehnte geduldig darunter verharrte. Diese kleine Ritual ist Vorbote der Wandlung. Sie lässt bereits Sensorien im Gehirn explodieren und kann gar dafür sorgen, dass einem ob der sensorischen Wucht kurz schwarz wird vor Augen.
Ich lasse den Keller unter mir. Die Karaffe und die leere Flasche in der Hand. Denn letztere ist das Pfand, das diese grossartige Kulturleistung erst deutlich macht.
Auf dem Sideboard neben dem Esstisch steht dann dieses Pfand: staubig, mit gebrochenem Siegellack, ohne Etikett (weise Voraussicht: Papier überdauert nur begrenzte Zeit im feuchten Keller); Name und Jahrgang sind also direkt auf der Flasche angebracht, nur noch schwer leserlich.
Auf dem festlich gedeckten Tisch aber: was für ein Kontrast!
In edel glänzendem geschliffenem Kristall lockt dunkelrot eine klare Flüssigkeit und verströmt einen betörenden Duft. Warmes Licht beleuchtet eine festliche, geniesserische, ja: andächtige Szenerie. In mundgeblasene Gläser wird sorgfältig eingegossen. Das Nass wirkt plötzlich kostbar. Und jeder begeisternde Schluck beweist, was Menschen Grossartiges vermögen.
Das ist die Apotheose von Kultur!
Was sind wir doch für ein Wunderding. Wir zaubern aus dem scheinbar Unscheinbaren, ja manchmal fast abstossenden, die schönsten Dinge hervor, die edelsten und vornehmsten Genüsse.
Was kümmert mich dann der Strich, der irgendwann darunter kommt und nüchtern fragt: „So what?“
Jetzt pfeife ich auf Nüchternheit und stimme das Loblied an auf uns Menschen – heute vertreten durch die Zunft der Winzer, irgendwo im fernen Portugal. Sie haben auf einfache Art und doch aufwändig – ja: genial! – bereitet, was uns heute, nach 47 Jahren, beglückt.
Wer mein Freund sein will, sollte mit Vorteil guten Wein schätzen.