Tim der Massenmörder
In mehreren Twitterbeiträgen hatte ich geschrieben, wir sollten uns nicht zu weit von Tim aus Stuttgart distanzieren; er habe vielleicht mehr von uns, als uns lieb ist; wir würden uns damit auch von uns selbst distanzieren und das sei gefährlich.
Es ist natürlich eine Herausforderung, sich selbst, den eigenen Alltag, das was wir und die meisten tun, zu hinterfragen. Doch gab es meines Erachtens selten eine Zeit, mit einer so starken Neigung, das Übliche zum Normalen zu erklären. Bezeichnenderweise betrifft das keineswegs nur die breite Bevölkerung, sondern auch die Fachwelt – die zB Untersuchungen mit dem Üblichen unter dem Aspekt des Normalen anstellt. Dieses Verhalten ist, zugegeben, bequemer. Und Letzteres avanciert immer mehr zum Generalmotiv. Doch ist dieser Kurzschluss zugleich ein fataler Fehler (Siehe auch «Lebensintelligenz 2» im 2bd magazin).
Das Übliche zum Normalen zu erklären, verhindert zum Beispiel eine nützliche Einsicht wie diese:
Uns allen ist bekannt, dass jener Tim, der sich als 17-Jähriger zum Massenmörder entschied, genauso aussieht, wie Millionen andere Junge in den Vorstädten. Gerade die Tatsache, dass er nichts Auffälliges an sich hatte – weder an seinem Aussehen, noch an seinem Verhalten – sollte uns nicht billig verstören, sondern sinnvoll aufmerken lassen. „Heisst das etwa, dass ich oder unser Sohn auch so enden könnte, wenn die Umstände oder was auch immer entsprechend wären?“ Ja, das heisst es. Zumindest oberflächlich betrachtet. Wenn man genauer hinschaut, entdeckt man dann schon Elemente einer spezifischen Konstellation, die in ihrer Gesamtheit die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ausklinkens aus der Mitmenschlichkeit deutlich ansteigen lassen. Doch bleibt auch dann Genügend übrig, das wir ohne weiteres uns selbst, unseren Nachbarn und Freunden zuordnen können, nicht wahr?
Und wieder einmal dient das Modell von «gute Version/schlechte Version» hervorragend, um ein Vorkommnis zu verstehen und daraus erst noch die richtigen Schlüsse zu ziehen. Denn, eine Erklärung ohne Perspektive zu neuem Handeln ist nicht nur nichts wert – sie schadet sogar. Weil sie uns beruhigt, statt uns aufzurütteln.
Voraussetzung, um das Modell «gute Version/schlechte Version» (sV/gV) zu entwickeln, war eben die oben als vermisst gemeldete Bereitschaft, das was üblich ist zu hinterfragen, um darin Nützliches zu erkennen und daraus abzuleiten. Leider setzt auch die Möglichkeit, die Wucht des Modells zu erkennen und – vor allem! – es zum Eigennutzen zu verwenden, genannte Bereitschaft voraus. Womit meine diesbezüglichen Ausführungen automatisch schlechtere Karten erhalten. Tja, seis drum. Hier folgt trotzdem die nutzbringende Verbindung von dir und mir mit Tim, dem Massenmörder.
Ich weise wieder darauf hin, dass in jedem Menschen – und nur in uns Menschen! – eine gute und eine schlechte Version steckt. Nur in uns, weil nur wir Menschen in der Lage sind, uns selbst oder andere zu entwerten. Wie wir unser praktisches Leben tagein tagaus gestalten, hängt davon ab, in welcher Version von uns selbst wir uns vornehmlich befinden und vor allem, in welcher wir handeln. Ohne zuerst Grundlegendes in unserem Leben verändern zu müssen, haben wir stets die Wahl, welche unserer beiden Versionen in welchem Grad zum Zug kommt (es gibt nämlich nicht nur sV/gV, sondern auch noch die schlechteste und die beste Version. Das ist zweifellos für alle ohne weiteres nachvollziehbar). Ich persönlich finde diesen Umstand fantastisch.
Nun zu Tim. Tim hat Zeit seines unauffälligen Lebens diese schreckliche schlechteste Version seiner selbst in sich getragen. Ins Handeln kommen liess er jedoch meist nur die in dummer Weise (s. einleitende Sätze) so genannte «unauffällige» gV.
Was passiert ist: Er entschloss sich, als es für ihn Zeit war, seine radikale sV kompromisslos ins Handeln zu führen. Und schon war die Katastrophe geschehen.
Ich schaue täglich Menschen in ihr Innerstes; mittlerweile sind das ein paar tausend, die mir Ihr Geheimes offenbart haben. Und ich kann bestätigen, dass sich dabei 1. die ganze Bandbreite von dem öffnete, was wir gemeinhin als Bevölkerung bezeichnen und 2. alle – alle! – solche Regungen in sich trugen, die mit jenen vergleichbar sind, wie sie dieser Tim hinter seinem Handeln trug. Der einzige prinzipielle Unterschied ist der, dass wir zwar ab und an und täglich auch unsere sV spazieren führen – bedauerlicherweise, denn es ist anders möglich! -, dass jedoch fast niemand auf die schreckliche Idee kommt, die allerschlechteste auszupacken und damit eine folgerichtiges Massaker anzurichten … bis dann irgendwann ein Regime kommt und die schlechteste, grauenvolle Version als legitim erklärt, nicht wahr, liebe Nachbarn da oben?
Nichts Neues also im Norden, im Westen (wo gleichentags ein dort schon fast übliches Schulmassaker geschah) und auch nicht bei uns in der Schweiz – so nackt ohne Bankgeheimnis! Die Frage ist jeweils, was wir als Individuum und als Gesellschaft de facto favorisieren.
Einen schönen Sonntag wünscht 2bd!
[…] ich zu Fritzl, der zurzeit gerade nochmals aufflackert, bereits Dinge geschrieben habe, die mit den Äusserungen zu Tim einiges gemein […]
2bd Blog | Bernhard Brändli-Dietwyler » Tim der Massenmörder oder Fritzl der Schänder - ist doch einerlei! am 21. März 2009 um 13:40 Uhr