Erhebt euch! (erst mal sich strecken)
Ich beginne mit einer Vorbetrachtung.
Wir Menschen, als extrem mit Bewusstsein ausgestattete Spezies (na ja), benutzen dieses bevorzugt, um die Lebensökonomie zu optimieren. Eine der wichtigsten Aktivitäten, die wir mit dem Bewusstsein im Dienst der Lebensökonomie ausführen, ist die Rechtfertigung der Situation, in der wir leben (Stichwort: „Wir leben in der besten aller möglichen Welten“). Selbst Menschen, die alles Scheisse finden, rechtfertigen damit meistens ihren Status quo. Sie sagen sich zB zusätzlich: „Aber man kann ja eh nichts machen,“ oder „wenn nur alle so wären wie ich …,“ oder „die andern sind schuld an meiner Misere.“
Der Sinn dieser Rechtfertigungen – beachte: Alles kann gerechtfertigt werden, einfach alles!! – ist es, den Aufwand für die alltäglichen Verrichtungen zu minimieren. Dabei funktioniert die Grunddynamik folgendermassen: Je grösser die tiefe innere (den meisten nicht bewusste) Verunsicherung ist, das Empfinden, im Grunde nichts wert zu sein, desto grösser ist logischerweise die Anstrengung, das vorliegende Ergebnis wenn nötig mit allen Mitteln als richtig zu rechtfertigen. Das mündet dann in starre Ansichten, bis zur latenten oder gar offenen Gewaltbereitschaft. (Es wäre sicher interessant, einmal die islamischen Gesellschaften unter diesem Aspekt zu betrachten (Stichwort «Mohammed Karikaturen»)).
Das Ganze mündet in der Formel:
«Je schlechter die Verfassung eines Menschen, je mieser sein persönliches Leben in Wahrheit ist, desto geringer sein Bestreben, seine Situation zu verändern.»
Arme SozialhelferInnen!
Eine der Konsequenzen dieses fast durchgängigen und lebensökonomisch an sich durchaus vernünftigen Verhaltensmusters der Rechtfertigung ist, dass nachhaltige – vor allem persönliche – Weiterentwicklung kaum stattfinden kann. Denn, um eine Entwicklung einzuleiten, müssten wir uns und der Art und Weise, wie wir das Leben bewältigen, ja zuerst Unrecht geben! Eine ziemliche Herausforderung an das Bewusstsein; besonders deshalb, weil dieses auf einem Vulkan sitzt, der ständig droht auszubrechen – auf dem Vulkan der Selbstentwertung.
So beisst sich die Katze in den Schwanz. Egal, wie schlimm die persönliche Situation sein mag, wir rechtfertigen sie. Und nehmen uns so selbst die Möglichkeit, diese Situation zu ändern. Entsprechend sind die bewahrenden Kräfte – egal ob konservativ oder liberal! – zumeist in der Mehrheit. Was anders gestrickten Naturen zB nach Wahlen immer wieder verzweifeltes Kopfschütteln entlockt. Doch, wären diese plötzlich dran, würden die meisten von ihnen auf ihre Weise die Situation rechtfertigen; die tollen Ideen und Ideale pflegen sich rasch in Luft aufzulösen. Kurz: Opposition ist bloss eine Variante desselben Musters.
Nun kommt es aber doch zu Bewegungen, die manchmal sogar einen Wandel einläuten. Das sind
BEWEGUNGEN, DIE SICH VOM BESTEHNDEN KONTEXT UNABHÄNGIG MACHEN, AUF IHN PFEIFEN !
Warum geschieht das?
Ich unterscheide da zwischen persönlichem Crash und sozialem Crash.
Üblicherweise führt nicht der Wunsch nach mehr Lebensqualität, sondern ein persönlicher Crash dazu, sich echt weiter zu entwickeln: eine Depression, eine schwere Erkrankung, ein Unfall, eine Beziehung zerbricht, man scheitert beruflicht. Also erst, wenn das Rechtfertigungsgebäude so starke Risse bekommt, dass es lächerlich wirkte, es als intakt zu bezeichnen (manche schaffen allerdings auch das ganz locker!), besteht eine Chance, auch andere Fragen zu stellen. Freiwillig macht das fast niemand.
Das ist übrigens der Hauptgrund hinter dem Bestreben, Phänomene des Scheiterns als etwas zu definieren, das sozial abgesegnet ist. Das Hauptinstrument dafür ist die (medizinisch definierte) «Krankheit», verbunden mit dem Rechtfertigungsmythos, dass man für eine Krankheit nichts kann; „Ich bin einfach krank geworden.“ Als Paradebeispiel dafür mag das ADS-Syndrom herhalten. Heute, da wir in der Krise die dann jeweils übliche Tendenz zur Verwahrlosung der Lebensführung beobachten, werden neue «Krankheiten» praktisch monatlich definiert – und sofort mit einem Behandlungsmuster versehen. Die Pharmaindustrie hat stets was zu forschen; noch ein Medikament für etwas, das gar keiner Behandlung bedarf, sondern einer schlichten Verhaltensänderung. Wobei ich fürchte, dass diese Tendenz sich diesmal ungebrochen über die Krise hinaus fortsetzen wird. Denn die Auslöser der Krise – ich meine jetzt nicht die bösen Abzocker, sondern Dauerstress, Hetze und die schiere Unmöglichkeit, irgendwann noch zu sich zu finden und zu überprüfen, was man da eigentlich tut – eben dieses ungeheure Aufmerksamkeitsdefizit! – maroden munter weiter und nehmen zu und zu und zu … Womit wir zwischendurch bei meinem persönlichen Auslöser angekommen sind: „Erhebt euch!“
Also, der fromme Spruch. „Wir arbeiten lieber mit Menschen, die nicht erst durch Leiden motiviert werden, sondern mehr vom Leben wollen“, wie ihn die «Lebensschule 2» prägte, bleibt leider das, was er ist: eben, ein frommer Spruch. – Aber da gab es doch einmal – oder zweimal? – eine Epoche in der jüngeren Geschichte, wo haufenweise Menschen mehr wollten. Nicht noch mehr Geld, noch mehr Tand, noch mehr Unterhaltung. Sie wollten mehr Leben! Wie wurde das möglich? Zufall? Einmalige Konstellation? Damit wären wir wieder bei den Rechtfertigungsmustern des Status quo angelangt.
Nein, es war etwas ganz Simples. Es war ein sozialer Crash! Das heisst, wenn sich wie damals schleichend eine soziale Krise anbahnt oder auch mal plötzlich, weil zum Beispiel eine Wirtschaftskrise nicht wie die heutige einfach aufgekauft werden kann, gibt es eine gewisse Masse direkt Betroffener, bei denen sich die soziale Krise mit der persönlichen vereint. Und es gibt viele nicht in dem Ausmass Betroffene, die das fortschreitende Zusammenbrechen der Heilsfassade mitverfolgen. In dieser Situation kommt es vor, dass nicht mehr die Rechtfertigung des Status quo als das lebensökonomisch günstigste Muster erscheint, sondern es unverhofft fast ebenso einfach und lebensökonomisch vernünftig wird, das, was ist, in Frage zu stellen. Und, entscheidend: MAN IST NICHT ALLEIN DAMIT!
In solchen Situationen kommt es zu Bewusstseinssprüngen. Die das natürlich nach wie vor latent aktive persönliche Rechtfertigungssystem förmlich übertölpeln und durch Bewusstsein gewonnenen neuen Inhalten Recht geben. Eine Bewegung kann entstehen, die das neue Bewusstsein unterstützt, stärkt und weiter entfaltet – weit über die persönliche Verfassung hinaus. Und weit über das hinaus, wozu man vorher bereit gewesen wäre. Veränderungen werden plötzlich freiwillig angestrebt.
Halt! Klärung: Ich meine jetzt nicht politische Veränderungen, bei denen andere die Verantwortung tragen sollen. Ich meine die Bereitschaft, sich auch persönlich Neuem auszusetzen und sich zu wagen! Und wenn politische Veränderungen, dann meine ich solche, die persönliche Veränderungen begünstigen, wenn nicht fordern.
Solche Dinge werden dann möglich. Und sie sind nichts Besonderes. Vielmehr gehorchen sie grundsätzlich denselben Gesetzen, wie das sich Festklammern am Status quo. Deshalb habe ich im Zuge der Entwicklung des Projekts zweite Lebensschule (und weitere Infos unter dem entsprechenden Suchbegriff) eine Bewegung gefordert. Die Zeit war noch nicht reif, nirgends. Leider. Ist sie es heute?
Wir sollten allerdings bedenken, dass das Bewusstsein auch bloss Bewusstsein ist. Zum Schluss bleibt das persönliche Rootset Sieger. Doch das Bewusstsein kann man nutzen; es bietet die Chance, «Faits accomplis» zu machen; Veränderungen, die nicht so einfach rückgängig zu machen sind. Und das Bewusstsein kann einen Emanzipationsprozess einleiten, der sich verselbständigt, eine unvorhersehbare Dynamik entfaltet und das Beharrende mitschleust.
Nicht das Bewusstsein vermag irgend etwas Nachhaltiges,
sondern mit Glück die Praxis, wofür wir uns bewusst entschieden haben, ohne genau zu wissen, wo sie uns hinführt.
Das ist die Chance – und meines Erachtens die einzige – für echte, nachhaltige Entwicklungen. Was aus der Not geboren wurde, bleibt im alten Kontext: Möglichst wenig Aufwand, damit man wieder Ruhe hat. Die Rechtfertigung des Status quo wird nicht in Frage gestellt. Für kleinere Reparaturen ist das das richtige Rezept. Man muss nicht bei jeder Blessur das Leben neu erfinden. Für grössere Operationen jedoch versagt jenes Modell. Es braucht das Bewusstsein, das Flügel bekommt und sich mit der (oft erst dann erwachten!) Sehnsucht verbündet. Der Sehnsucht nach einem Leben, das diesen Namen mit Würde trägt.
Soweit die Vorbetrachtung – der geplante Fünfzeiler. Das Hauptmenü ist im Entstehen; das darf natürlich nicht so sachlich sein; da muss ich immer wieder warten, bis mich das Feuer packt.